Reportage

Besuch aus einer fernen Welt

Im Februar 2009 besuchte Vereinsmitglied Natascha Haehling von Lanzenauer das Bustee Welfare Centre, um Impressionen für diese Website zu sammeln – und um ihr Patenkind Neha zu treffen.

Moloch der Herausforderungen

Bekannt ist Kalkutta – oder Kolkata, wie die Stadt offiziell heißt – für die pittoresk verfallenden Bauten aus der englischen Kolonialzeit, vor allem aber für die zahlreichen Slums, Armut und Elend. Das gibt es hier schon immer, schließlich zieht die Metropole wie ein Magnet Migranten aus verarmten Regionen (beispielsweise den indischen Bundesstaaten Orissa und Bihar oder aus Bangladesh) an. Sie suchen eine Zuflucht vor Hungersnöten, Konflikten und schierer Existenznot. Und sie wollen ihren Familien eine bessere Zukunft ermöglichen.

Zahlreiche Hilfsorganisationen sind mittlerweile in Kalkutta tätig, weltweit bekannt ist der Orden Mutter Teresas. Neben religiösen sind es vor allem private Initiativen, die sich nachhaltig für bessere Lebensbedingungen der vielen Bedürftigen einsetzen. Allerdings ist auch das Elend im Wandel, die Herausforderungen verändern sich. Obdachlosigkeit, Krankheit und Hunger sind weiterhin sichtbar, inzwischen breiten sich außerdem Drogenabhängigkeit und Alkoholismus aus, wodurch viele Probleme zusätzlich verstärkt werden. Die Westbengalische Regierung versucht mit Aufklärungskampagnen und Help Centers dagegen zu steuern, hat u.a. Einrichtungen zur Suchtrehabilitation und Kampagnen gegen Häusliche Gewalt initiiert. Aber das ist alles noch ziemlich am Anfang.

Andere staatliche Aktivitäten, insbesondere in den Bereichen Bildung und Geburtenkontrolle zeigen wenig Erfolg. Während eine wohlhabende Mittelschicht entsteht, die in sauberen und abgeschotteten Wohngebieten gleichsam in einem „anderen Indien“ lebt, werden die Zustände in den Slums nicht besser. Insofern ist es umso wichtiger, diesen Kindern und ihren Familien „Starthilfe“ zu geben. Sie brauchen Menschen, die sie unterstützen, fördern und begleiten, bis sie auf eigenen Füßen stehen können.

Leben im bustee

In Kalkutta leben etwa 20 Prozent der Stadtbewohner in rund 3000 Slums, drei Millionen vegetieren als pavement dwellers auf der Straße. Slums sind im Prinzip ein Nebenprodukt der Industrialisierung. Während man jedoch in Europa all das weit hinter sich gelassen hat, wachsen und wuchern diese überfüllten Siedlungen in Entwicklungs- und Schwellenländern immer schneller. Slums sind als Orte des Elends, der Verwahrlosung und Gewalt stereotypisiert, es gibt jedoch auch vieles, was hier funktioniert und es gibt große Unterschiede.

In indischen Großstädten findet man (noch) viele zentral gelegene Slums, die sich über Jahrzehnte regelrecht wie kleine Dörfer entwickelt haben. In manchen gibt es inzwischen Strom, zentrale Wasserversorgung sowie Gemeinschaftstoiletten. Und was am wichtigsten ist: hier leben die Menschen in ihrer Community, d.h. in Gemeinschaften, die aus dörflichen Strukturen und sozialer Zugehörigkeit heraus entstanden sind. Wer in die Stadt kommt, hat meist Verwandte oder Leute aus seiner Heimat als Anlaufstelle, dadurch einen ersten Unterschlupf und vielleicht die Möglichkeit eine Arbeit zu finden. In vielen Slums herrscht reges wirtschaftliches Treiben: es wird auf engstem Raum produziert, repariert und recycled.

Das Leben im Slum ist also anstrengend und konfliktreich, aber auch von Toleranz und Gemeinsinn geprägt. Man achtet aufeinander. Eben gab es noch Streit an der Wasserpumpe, im nächsten Moment kümmert man sich im Notfall um die alte Mutter oder die Kinder des Nachbarn. Für Menschen, die kaum etwas haben, ist es existentiell entscheidend, sich auf solche Strukturen stützen zu können. Das ist weniger christliche Nächstenliebe, denn der Not geschuldete Überlebenstechnik.

Redevelopment – eine Bedrohung für die Slum-Bewohner

Sicherlich sind die Zustände in Slums schwierig. Aber es sind gewachsene Gemeinschaften und Strukturen. Die wirtschaftliche Entwicklung verändert das Gesicht indischer Großstädte rasant. So wie in Bombay das aus dem Film Slumdog Millonaire bekannte Dharavi-Slum abgerissen bzw. „entwickelt“ werden soll, stehen auch in Kalkutta innerstädtische Slums zur Disposition.

Anstatt jedoch für die Bewohner und langjährigen Besitzer der engen Behausungen und Werkstätten bessere Lebensbedingungen zu schaffen, werden die attraktiv gelegenen Grundstücke für profitträchtige kommerzielle Neubauten genutzt: Büros, Luxuswohnungen, Shopping Center. Promoter ziehen durch die Slums und überreden die meist arglosen Bewohner, für wenig Geld und schöne Versprechungen ihr Zuhause abzutreten. Da sie nicht lesen können, machen sie einfach ein Kreuz aufs Papier. Und landen dann irgendwo am Stadtrand, weit weg von ihren Arbeitsstellen, ihrer Community, den überlebenswichtigen Netzwerken.

Vom Slumdog zum Aufsteiger

Der Teufelskreis aus Armut und fehlender Schulbildung ist einer der größten Hemmschuhe Indiens. Die Analphabetenquote liegt landesweit bei ca. 40%, wobei einige Bundesstaaten wie Kerala und Karnataka im Süden sehr fortschrittlich sind, ärmere wie Westbengalen hingegen weit hinten liegen.

Wie der „Slumdog“ im Film haben die Kinder Träume, wollen der Enge und Armut entkommen. Bildung gilt als Schlüssel in einem gesellschaftlichen Wettbewerb um Erfolg, Aufstieg und eine bessere Zukunft. Es fehlt nicht am Willen: zur Schule zu gehen ist hoch angesehen, ein Privileg. Aber es mangelt an Geld, Platz und oft an Verständnis und Unterstützung der Familie, wenn es um Schulbildung oder gar Förderung der individuellen Begabungen geht.

Diejenigen, denen man die Hand reichen kann, sind hoch motiviert: „Wenn Du wirklich willst, kannst Du es schaffen, Du kannst sogar Arzt werden – oder zumindest in einem Call Center arbeiten – die Welt steht Dir offen!“ Und sie geben diese Motivation und ihr positives Lebensbild aktiv weiter, bewegen einiges in ihren Familien und in den bustees.